Meinung / Olympische Spiele 2022


Frostiger Frühling in Peking

Von Annegret Handel-Kempf

Peking ist die erste Stadt der Welt, die Sommer- und Winterspiele veranstaltet. Nach 2008, als die damals sommerlichen Spiele gutgestimmt vom politischen Westen begrüßt wurden, sind die am 4. Februar 2022 startenden Wintersport-Spiele, ohne erwähnenswerte Mengen natürlichen Schnees im asiatischen Großreich, politisch und klimatisch extrem belastet. Darüber täuschen auch keine verniedlichenden Symbol-Schneeflocken hinweg.

Die 24. Olympischen Winterspiele werden zum Beginn des Frühlings in China in Szene gesetzt, der „Lebenszyklus“ als künstlerische Symbolik bei der Eröffnungszeremonie bemüht. „Kalter Tau“, der als Bild für den Herbst in diesem Zyklus auftritt, touchiert die Zuschauer emotional in einem Moment, in dem viele Sportler an deutlich weniger prächtigen Orten in Isolation sind und hoffen, doch noch mitmachen zu dürfen bei den Wettbewerben ihrer Disziplin. Minus 20 bis minus 30 Grad meldet der Wetterbericht für die nächsten Tage. Bei minus 20 Grad ist Feierabend für die Biathleten, die eigentlich bei Flutlicht in den frostigen Nächten in einer Höhenlage von 1700 Metern antreten sollen.

Sieben Disziplinen des Wintersports mehr als bei vorangegangenen Olympischen Spielen laden 2022 in Peking zum Wettkampf, während wir zur Einstimmung ein wenig ungläubig Friedensapellen der IOC-Führung und John Lennons Hoffnung schürendem „Imagine“ lauschen.

How come? How dare you? – Das IOC will von den Wettbewerben nur die Gewinne haben, nicht die Risiken. Potenzielle Ausrichter wie das bayerische Garmisch lehnten deshalb mit den Stimmen der betroffenen Bewohner das Event ab. Der mächtigste Mann der Welt hingegen beschloss, dass China eine Wintersportnation wird. Die heimischen Kinder lernen Skifahren, ein Naturschutzgebiet wurde in Teilen zu einer künstlichen Winterlandschaft.

Die Jugend Chinas wird konkurrenzfähig zu den jungen Sportlern der Welt gedrillt. Corona trägt indes mit positiven Testergebnissen dazu bei, die Wettbewerbsfähigkeit von Spitzenathleten aus schneeaffineren Ländern zu minimieren. Dass ein Betreuer bei der Eröffnungsfeier die Fahne tragen muss, weil unklar ist, ob der einzige Teilnehmer der Nation – zum Zeitpunkt der Zeremonie akut Covid19-positiv beschieden – überhaupt beim Traditionswettbewerb starten kann, hatte es vor den Olympischen Spielen 2022 nicht gegeben.

Weit sitzen der Staatspräsident Chinas, Xi Jinping, und der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, Thomas Bach, bei der Eröffnungsfeier am 4. Februar auseinander. Trotzdem sind sich beide Funktionäre in ihrem Befürworten der Spiele, in diesem an Schneeflocken armen Land, eher nah. Mit 1,4 Milliarden Menschen hat China die meisten Bewohner der Welt. Vielleicht ist es mittlerweile das mächtigste Land, weil die Bürger anderer Staaten sich lange Zeit erhaben fühlten gegenüber emsigen Arbeitern, die für wenig Geld viel Billig- und Konsumware für die Geiz-ist-geil-Mentalität in den einst reicheren Nationen produzierten.

Jobs und Kompetenz gingen verloren in den vormals führenden Industrienationen, obwohl oder weil mit der Auslagerung der Produktionen bestehende Rollen und Reichtümer zuhause konserviert werden sollten. Die Rechnung ging nicht auf für die Masse der Menschen in den westlichen Nationen, höchstens für wenige. Das menschenreiche China übernahm, auch in Feldern, die nichts mit klassischer Produktion zu tun haben. Transformation, Digitalisierung: China beherrscht inzwischen auch diese Disziplinen mit Leadership-Mentalität. Zu gut sogar. Die Datenkrake ist emsig, ihre Sensorik feingetunt. Eventuelle Sanktionierungen für Unangepasstheit erscheinen heftig in ihrem Drohpotenzial.

Anrührend wirkt bei der Anfangsshow der nach dem chinesischen Alphabet geordnete Einzug der Nationen ins „Vogelnest“. Mit Ein-Frau- und Ein-Mann-Delegationen, mit drei und weniger Athleten, die nicht unbedingt in den Nationen, die sie vertreten, geboren wurden beziehungsweise dort leben. Siehe den einsamen, dennoch gutgelaunten Fahnenträger aus den Philippinen. Alpines oder auch nordisches Skifahren und Skirennen lässt sich nun mal nicht überall gut trainieren und praktizieren. Was neuerdings aber kein Grund sein muss, in einem wenig Wintersport affinen Land große Wettkämpfe zu veranstalten: Siehe China 2022. Der Wille regiert.

Die Jugend der Welt zieht ein ins Mega-Stadion, um Frieden beim gemeinsamen Sporttreiben zu verkörpern. Großbritannien hatte sich wie andere für einen politischen Boykott der Spiele ausgesprochen. Das Publikum winkt trotzdem stumm zurück, als die britischen Sportler kommen. Geladene Gäste. Im freien Verkauf gab es keine Karten.

Claudia Pechstein, fitte Eisschnellläuferin mit fünf Olympia-Medaillen, die im flotten Sprint bei ihren achten Spielen auf ihren 50. Geburtstag zuläuft und seit fast 30 Jahren an den Olympischen Spielen teilnimmt, sowie Bobfahrer-Rekordweltmeister Francesco Friedrich strahlen als Fahnenträger der Deutschen. Thomas Bach wirkt entfesselt, als er den einziehenden, deutschen Sportlerinnen mit beiden Armen zuwinkt.

Fröhliche Stimmung verbreiten die Italiener. Sie tragen sich wechselseitig auf den Schultern, freuen sich vermutlich darauf, dass die nächsten Olympischen Spielen in ihrem Heimatland stattfinden sollen. Dort, wo die Natur besser auf Wintersport eingerichtet ist. Ihnen folgt der Gastgeber China: Die Olympischen Winterspiele stellen den Gang der Dinge und der Zeitenabfolge auf den Kopf.

Weltstars treten nicht bei der Eröffnung am chinesischen Frühlingsbeginn auf: China braucht niemanden, auch in seiner Wirtschaft nicht. China kann von sich selbst und nach seinen eigenen Regeln leben. Gibt der gewaltigste Staat der Welt (zumindest) bei diesem großen Spektakel Talenten die Chance, sich frei zu entfalten, ungehindert zu konkurrieren? – Nach den 24. Olympischen Winterspielen im Jahr des Tigers werden wir möglicherweise mehr darüber wissen.

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