Von Annegret Handel-Kempf
Neben Thomas Muster ist er der beste österreichische Tennisspieler aller Zeiten: Dominic Thiem hat mit 30 Jahren das Ende seiner Profi-Karriere verkündet. Sein Handgelenk stürzte ihn von der Spitze. Das alte Selbst wiederzufinden, blieb für die ehemalige Nummer drei der Welt schmerzbedingt eine Illusion.
Den Brückentag nach einem Feiertag hat sich Dominic Thiem ausgesucht, um über die Sozialen Medien aller Welt zu erzählen, was schon lange in ihm gärt: Der Niederösterreicher will zum Saisonende Schluss machen. Den Übergang in ein neues Leben wird er voraussichtlich mit den Erste Bank Open, einem 500er-Turnier in Wien, im Oktober fixieren. „Ich hatte Erfolge und habe Trophäen gewonnen, von denen ich nie gewagt habe, zu träumen. All diese Höhen und Tiefen in meiner Karriere waren eine unbezahlbare Erfahrung, für die ich so dankbar bin. Aber am Ende bin ich zum Entschluss gekommen, dass die Entscheidung, aufzuhören, die einzig richtige ist. Ich bin sehr glücklich damit und sehr aufgeregt, was meine Zukunft betrifft.“
Es ist erst wenige Wochen her, da hatte der US-Open-Sieger von 2020, der sechzehn weitere ATP-Titel auf der höchsten Profitour der Herren gewann und zudem bei drei Majors im Finale stand, in München, am Rande der BMW Open, bewegend geschildert, was in ihm vorgeht. Wie ihm die zynischen Kommentare zu seinem Ranking-Absturz auf aktuell Platz 117 zusetzen, dem er mit seinem lädierten Handgelenk nicht noch mehr entgegensetzen konnte. Möglicherweise hatte er schon zu viel probiert und von sich gefordert. „Der zweite Grund ist das innere Gefühl von mir“, sagte er jetzt, beispielsweise auf Instagram. „Ich habe lange über diese Entscheidung nachgedacht. Ich habe auch an meine gesamte Reise als Tennisspieler gedacht, die unglaublich war.“
Ein knappes Jahr lang war Thiem, der mit seinem zwingenden Aufschlag und seiner gnadenlosen Vorhand auch der „Dominator“ genannt wurde, die Nummer drei der Tenniswelt, der er sein bisheriges Leben gewidmet hatte.
Vergangenheit. Als „Domi“ im Frühjahr 2024 in München sagt: „Es ist ein Traum“, spricht der Wiener nicht von seinen weiteren Karriereaussichten. Sondern von der Stadt, der Anlage. Vielleicht auch von der heimeligen Atmosphäre, die von der Geburtsstadt seiner Freundin Lily Paul-Roncalli ausgeht. Vom Gefühl, als er 2016 im Finale der BMW Open stand. Münchner Gemütlichkeit für den gebeutelten Grand-Slam-Sieger, der 2023 nicht über Platz 72 im Profi-Ranking hinauskam.
Trost kann der 30-Jährige, der einst als Anwärter auf Rafael Nadals Fußstapfen gehandelt wurde, in jenen Tagen, in denen sein Rücktritt näher rückt, brauchen. Denn die ehemalige Nummer drei des Tennis-Kosmos sagt auch: „Ich habe damit abgeschlossen, mich mit meiner früheren Version zu vergleichen.“
Im März 2020 war der gute Kumpel von Alexander Zverev gerade zur Nummer drei der Welt aufgestiegen, als sich die Menschheit abrupt in den Pandemie-Lockdown zurückzog. Auf „unaufhaltbar nach oben“ folgte eine rapide Vollbremsung. Überschäumende Euphorie zerfiel in Fassungslosigkeit. Thiem gelang trotz allem sein erster Grand-Slam-Sieg, bei den US Open. In fünf Sätzen behielt er gegenüber Alexander Zverev am Ende die Oberhand. Dem mentalen Down, das viele traf, folgte bei Thiem eine Verletzung. Nicht auf den Fuß, aber ins Handgelenk.
„Es ist alles andere als trivial“, sagt er im April 2024. Fast drei Jahre, nachdem auf Mallorca im Rasenmatch die Hand mit einem Schlag nicht mehr mitspielte. „Nicht trivial“. So sagen Ärzte, wenn das Feininstrument Hand Blessuren abbekommt, die nachklingen, während immer mehr Zeit verstreicht.
„Sicher ist das nervig“, sagt Thiem. „Das Hauptproblem ist, dass es sich nicht so anfühlt, wie es vorher, vor der Verletzung, war“, analysiert er, der früher als Spezialist für feingeführte Gewinnschläge galt. Die Vorhand, der Aufschlag. In solch wichtigen Match-Momenten spürt er, der einst so feinfühlig mit seiner Hand am Schläger agierte, wie die Sehne über das Narbengewebe springt. Je öfter, desto mehr breitet sich der Schmerz aus. „Da sind Situationen, wo ich weiß, wie ich die Bälle früher gespielt habe, und wie das jetzt teilweise nicht möglich war.“
Am Ende eines Sturm- und Regentages, an dem es so aussah, als ob nichts mehr mit Tennis geht, läuft Thiem zur ersten Runde auf den Platz, während die Zuschauer laut jubeln.
Der Österreicher spielt vom Stand weg seinen spanischen Gegner in Grund und Boden. Mit Urgewalt beim Stürmen und Drängen. Und auch beim Schlagen. Die Zuschauer applaudieren, johlen und sehen nicht, was in seinem Handgelenk vor sich geht. Dass es mit jedem heftigen Schlag weicher wird und den Schmerzen anstelle dem Willen des Dominators nachgibt.
„Gemma, Domi, hau drauf. Den hast du“, rufen ein paar stimmgewaltige Unterstützer ein uns andere Mal, wenn der Dominator sich an den Aufschlag macht. „Ah, geh‘ ab, Domi!“, rufen andere. Unverständige, Enttäuschte. Aus der Distanz der Tribüne, aus einer Perspektive, in der dem Wiener der Wille zu fehlen scheint, wenn er Punkte verschenkt, die er – aus Sicht derer, die nicht mit seinem Handgelenkt am Platz stehen – leicht bekommen könnte. Seine Fans zu enttäuschen, das setzt Thiem zu. Dabei täuscht ihn seine folgenreiche Verletzung, spielt ihm vor, im Match durchzuhalten. Und tut es dann doch wieder nicht. Die Menschen in München beklagen sich nur vereinzelt, wenn ein Punkt misslingt. Sie sehen, dass Thiem immer noch zaubern kann. Mit der Zeit mehrt sich ihr anfeuerndes Klatschen.
Die Fans honorieren seine Leistung, als er am Ende gegen den spanischen Qualifikanten Alejandro Moro Canas 4:6, 4:6 verliert. Trotz fantastischer Aktionen und Breaks, die davon zeugen, dass mit Kopf und Kondition alles top ist. Eine Niederlage eines austrainierten und erfahrenen Ballzauberers, die zeigt, dass lediglich einem Teil von ihm offensichtlich die Kraft ausgegangen ist. Das Handgelenkt will nicht mehr mitspielen. Im Leben eines Menschen, dessen Leben Tennis war und ist. Dessen Eltern Tennislehrer sind, dessen Bruder sein Manager ist.
Der Liebling der Österreicher, der Kinder, der sein Glück in Händen hielt. Thiem, der als ein Kronprinz in Nachfolge der Großen Drei, Roger Federer, Rafael Nadal und Novak Djokovic, galt. Die Eleganz des einen, das Sandplatz-Feeling des anderen, das Unbedingte des Dritten vereinte er in einer Person. Er, der zuverlässig funktionierte auf dem Court, wann immer es darauf ankam. Von dem die Menschen erwarteten, dass er um den Titel mitspielte. In höheren Sphären, stets als Top-Ten-Athlet.
Vergangenheit. „Ich habe ewig alles versucht, dass das wieder so wird.“ Bis er gemerkt habe, dass es keinen Sinn mehr mache, dem hinterherzurennen. Dass es manche Situationen am Platz gebe, die er jetzt einfach akzeptieren müsse. Dass er versuchen müsse, das Beste daraus zu machen.
„Im Alltag ist alles völlig okay“, sagt er. Für den Alltag eines anderen, der nicht das Tennisspielen als Beruf hat, der nicht auf „spezifische Bewegungen“, wie Thiem das im Gespräch nennt, angewiesen ist, hätten sich die Dinge womöglich anders entwickelt.
Dieser Traum von der Rückkehr in die Unversehrtheit ist ausgeträumt: Die Sehne springt über Thiems Narben, der Körper schickt sich an, Alarmsignale zu senden, wenn „Domi“ wieder zum „Dominator“ werden und die frühere Leistung aus seinem Körper holen will. Je öfter das in einem langen Match, in engen Situationen passiert, desto schmerzhafter spürt Thiem die Warnungen seines Handgelenks.
Diese „Stopp“-Zeichen kann der US-Open-Sieger nur begrenzt überspielen. Mittlerweise weiß er, dass er das „Halt“ akzeptieren muss. Nachdem er in einer zukunftsgewandten Zeitreise alles gegeben hat, um in sein altes Ich zurückzukehren. In den Dominic, der mit 22 Jahren der jüngste Spieler in den Top 20 war. In den Dominic, der unablässig, fleißig trainierte, um seinem außergewöhnlichen Talent gerecht zu werden. Um angemessen weit in die Weltspitze vorzustoßen.
Thiem investiert drei Jahre viel, um aus seinem Tief herauszukommen. Mental und körperlich. Zieht Thomas Muster mit seiner Nummer-Eins-Erfahrung zu Rate. Lässt sich vom Durchhalte-Coach Benjamin Ebrahimzadeh antreiben. Geht freiwillig auf Challenger-Wettbewerbe, um sich von Grund auf neu aufzubauen. Startet mit seinem Vater als Coach neu durch. Mutet dem Handgelenk beim Training nur so viel zu, dass es beim Match, im Ernstfall, halten sollte. Hört beim Üben auf, wenn das „Aua“ kommt.
„Kontrolle“ ist sein Motto-Schlagwort. Kombiniert mit Einfühlungsvermögen: „Es gibt einen Grund dafür, warum man spüren sollte, warum man Schmerzen nicht wegspritzen sollte“, sagt er. Der Dominator tut fast alles. Doch die Hand hält dagegen.
Lange hat Thiem ein klassisches Comeback probiert. „Die letzten Monate und die letzten ein, zwei Jahre, war es selbst für mich schwierig, den Blick aufrecht zu halten, dass es irgendwann dauerhaft in eine bessere Richtung gehen wird. Ich habe nächtelang die Hoffnung durchdacht, den Glauben gehabt. “ Zugleich resigniert und optimistisch klingt Domis Umschwungs-Mantra: „Ich habe damit abgeschlossen, mich mit meiner früheren Version zu vergleichen. Das ist einfach eine andere Galaxie, wie ich damals gespielt habe und wie ich jetzt gespielt habe. So ehrlich muss ich zu mir sein. Deshalb versuche ich jetzt, das Beste aus der jetzigen Situation zu machen.“
Seine frühere Version: Das war der French-Open-Finalist von 2018 und 2019, der dem Sandplatzkönig Nadal das Siegen schwer machte. Das war der Hartplatz-Champion von 2020, der als erster Österreicher die US Open gewann. Sein erster und wohl auch einziger Grand-Slam-Sieg. Das war der Mann, dem potenziell alles gelingt. Für die French Open 2024 bekam er nicht mal mehr eine Wildcard von den Veranstaltern. So erging es auch Venus Williams.
„Man muss sich damit beschäftigen, dass eine Karriere irgendwann zu Ende ist“, sagt Thiem im April in München. Doch warum hat er diese schmerzhafte Trotz-alledem-Karriere nicht längst sausen lassen, wenn seine Hand doch so deutliche Signale gibt? Liegt es an den Kindern und Jugendlichen, die ihm auch in München begeistert zuströmen, Autogramme von ihm für die Ewigkeit wollen?
„Das ist einer der wichtigsten Gründe, vielleicht sogar der wichtigste überhaupt: Mit meinen Erfolgen, mit der Art und Weise, wie ich spiele, so viele Leute und idealerweise Kinder zu begeistern, mit Tennis anzufangen. Weil es ein unheimlich geiler Sport ist. Und wenn ich das geschafft habe, beziehungsweise, wenn ich es noch immer schaffe, dann ist das ein unheimlicher Antrieb“, sagt Thiem und wirkt zufrieden mit seinem allmählich zum Karriereabschluss kommenden Selbst.