Der Traum des Dominators

Dominic Thiem gibt Autogramme.

Filmriss. Die Zuschauer lieben ihn, doch Dominic Thiem steht am Ende seiner Top-Ten(nis)-Karriere, die Corona und sein Handgelenk rapide abbrachen. Das alte Selbst wiederzufinden, blieb schmerzbedingt eine Illusion.

Von Annegret Handel-Kempf

Dominic Thiem gewann die US Open, doch jetzt spielt sein Handgelenk nicht mehr mit. Dennoch bleibt er ein Idol für junge Tennisspieler, nicht nur in Österreich. Photo Credits: Annegret Handel-Kempf

Dominic Thiem rückt den Kopf hoch, lächelt und sagt: „Es ist ein Traum.“ Der Wiener spricht von der Stadt, der Anlage. Vielleicht auch von der heimeligen Atmosphäre, die von der Geburtsstadt seiner Freundin Lily Paul-Roncalli ausgeht. Vom Gefühl, als er 2016 in München im Finale der BMW Open stand. „This is Munich“, ist hier das Motto beim Leistungsvergleich auf rotem Sand, nahe am Englischen Garten. Münchner Gemütlichkeit für den gebeutelten Grand-Slam-Sieger, der sich kaum mehr in den Top 100 halten kann.

Trost kann der 30-Jährige, der einst als Anwärter auf Rafael Nadals Fußstapfen gehandelt wurde, dieser Tage brauchen. Denn die ehemalige Nummer drei des Tennis-Kosmos sagt auch, während sein Blick über die Courts schweift, auf denen aufsteigende Talente Qualifikations-Matches ausfechten: „Ich habe damit abgeschlossen, mich mit meiner früheren Version zu vergleichen.“

Die Sonne scheint an diesem Sonntagnachmittag überm Aumeister, im Münchner Tennis-Wunderland. Dort, wo ein Turnier mit Schlägern zum Wettkämpfen und Autos zum Spielen, Jahr für Jahr Fans und Neugierigen viel Lächeln auf die Lippen zaubert. Doch manchmal wird ein Traum zum Albtraum und die Sonne im Gesicht ist nur noch selten zu sehen. So wie seit 2021 bei Dominic Thiem.

Im März 2020 war der gute Kumpel von Olympiasieger Alexander Zverev gerade zur Nummer drei der Welt aufgestiegen, als sich die Menschheit abrupt in den Pandemie-Lockdown zurückzog. Auf „unaufhaltbar nach oben“ folgte eine rapide Vollbremsung, überschäumende Euphorie zerfiel in Fassungslosigkeit. Dem mentalen Down, das viele traf, folgte bei Thiem eine Verletzung. Nicht auf den Fuß, aber ins Handgelenk.

„Es ist alles andere als trivial“, sagt er im April 2024. Fast drei Jahre, nachdem auf Mallorca im Rasenmatch die Hand mit einem Schlag nicht mehr mitspielte. „Nicht trivial“. So sagen Ärzte, wenn das Feininstrument Hand Blessuren abbekommt, die nachklingen, während immer mehr Zeit verstreicht.

„Sicher ist das nervig“, sagt Thiem. „Das Hauptproblem ist, dass es sich nicht so anfühlt, wie es vorher, vor der Verletzung, war“, analysiert er, der früher als Spezialist für feingeführte Gewinnschläge galt. Die Vorhand, der Aufschlag. In solch wichtigen Match-Momenten spürt er, der einst so feinfühlig mit seiner Hand am Schläger agierte, wie die Sehne über das Narbengewebe springt. Je öfter, desto mehr breitet sich der Schmerz aus. „Da sind Situationen, wo ich weiß, wie ich die Bälle früher gespielt habe, und wie das jetzt teilweise nicht möglich war.“

Ganz vorsichtig kommt zwei Tage später gegen Abend die Sonne heraus. Am Ende eines Sturm- und Regentages, an dem es so aussah, als ob nichts mehr mit Tennis geht. Noch im Regen geht Thiem zur ersten Runde auf den Platz, während die Zuschauer laut jubeln, den US-Open-Sieger von 2019 feiern.

Der Österreicher spielt vom Stand weg seinen spanischen Gegner in Grund und Boden. Mit Urgewalt beim Stürmen und Drängen. Und auch beim Schlagen. Die Zuschauer applaudieren, johlen und sehen nicht, was in seinem Handgelenk vor sich geht. Dass es mit jedem heftigen Schlag weicher wird und den Schmerzen anstelle dem Willen des Dominators nachgibt.

Dominic Thiem war erst der Dominator, doch sein Handgelenk machte den Weg frei für Alejandro Moro Canas bei den BMW Open in München. Photo Credits: Annegret Handel-Kempf

„Gemma, Domi, hau drauf. Den hast du“, rufen ein paar stimmgewaltige Unterstützer ein uns andere Mal, wenn der Dominator sich an den Aufschlag macht. „Ah, geh‘ ab, Domi!“, rufen andere. Unverständige, Enttäuschte. Aus der Distanz der Tribüne, aus einer Perspektive, in der dem Wiener der Wille zu fehlen scheint, wenn er Punkte verschenkt, die er – aus Sicht derer, die nicht mit seinem Handgelenkt am Platz stehen – leicht bekommen könnte. Seine Fans zu enttäuschen, das setzt Thiem zu. Dabei täuscht ihn seine folgenreiche Verletzung, spielt ihm vor, im Match durchzuhalten, wenn es sonst sanft behandelt wird. Und tut es dann doch wieder nicht. Die Menschen in München beklagen sich nur vereinzelt, wenn ein Punkt misslingt, obwohl oder weil sie sehen, dass Thiem immer noch zaubern kann. Mit der Zeit mehrt sich ihr anfeuerndes Klatschen.

Die Fans honorieren seine Leistung, als er am Ende gegen den spanischen Qualifikanten Alejandro Moro Canas 4:6, 4:6 verliert. Trotz fantastischer Aktionen und Breaks, die davon zeugen, dass mit Kopf und Kondition alles top ist. Eine Niederlage eines austrainierten und erfahrenen Ballzauberers, die zeigt, dass lediglich einem Teil von ihm offensichtlich die Kraft ausgegangen ist. Das Handgelenkt will nicht mehr mitspielen. Im Leben eines Menschen, dessen Leben Tennis war und ist. Dessen Eltern Tennislehrer sind, dessen Bruder sein Manager ist. Der mit 30 Jahren nicht über sein Profidasein, seine gewohnte Tennis-Routine, über Möglichkeiten, besser zu werden, hinausdenken mag und kann. Noch.

„Ich habe ewig alles versucht, dass das wieder so wird.“

Dominic Thiem, April 2024

Der Liebling der Österreicher, der Kinder, der sein Glück in Händen hielt. Thiem, der als ein Kronprinz in Nachfolge der Großen Drei, Roger Federer, Rafael Nadal und Novak Djokovic, galt. Die Eleganz des einen, das Sandplatz-Feeling des anderen, das Unbedingte des Dritten vereinte er in einer Person. Er, der zuverlässig funktionierte auf dem Court, wann immer es darauf ankam. Von dem die Menschen erwarteten, dass er um den Titel mitspielte, in höheren Sphären, stets als Top-Ten-Athlet.

Nach der Niederlage geht es weiter: Das Idol der Kinder unterschreibt auf großen, gelben Bällen. Photo Credits: Annegret Handel-Kempf

Vergangenheit. „Ich habe ewig alles versucht, dass das wieder so wird.“ Bis er gemerkt habe, dass es keinen Sinn mehr macht, dem hinterherzurennen. Dass es manche Situationen am Platz gibt, die er jetzt einfach akzeptieren müsse, und versuchen, das Beste daraus zu machen.

Thiems Alltag. „Im Alltag ist alles völlig okay“, sagt er. Für den Alltag eines anderen, der nicht das Tennisspielen als Beruf hat, der nicht auf „spezifische Bewegungen“, wie Thiem das im Gespräch nennt, angewiesen ist, hätten sich die Dinge womöglich anders entwickelt. Bei einem, der nicht Profi-Tennisspieler ist, hätte man, wie er erzählt, gar nichts machen müssen. Ein anderer hätte leichten Herzens auf eine OP verzichten können. Auf einen Eingriff, getragen von der Hoffnung, das Handgelenk wieder optimal aufschlagfreudig und vorhandstabil, so wie zuvor, hinzubekommen.

Trainieren und Sehnen

Dieser Traum von der Rückkehr in die Unversehrtheit ist ausgeträumt: Die Sehne springt über Thiems Narben, der Körper schickt sich an, Alarmsignale zu senden, wenn „Domi“ wieder zum „Dominator“ werden und die frühere Leistung aus seinem Körper holen will. Je öfter das in einem langen Match, in engen Situationen passiert, desto schmerzhafter spürt Thiem die Warnungen seines Handgelenks. Diese „Stopp“-Zeichen kann der US-Open-Sieger nur begrenzt überspielen. Mittlerweise weiß er, dass er das „Halt“ akzeptieren muss. Nachdem er in einer zukunftsgewandten Zeitreise alles gegeben hat, um in sein altes Ich zurückzukehren. In den Dominic, der mit 22 Jahren der jüngste Spieler in den Top 20 war. In den Dominic, der unablässig, fleißig trainierte, um seinem außergewöhnlichen Talent gerecht zu werden. Um angemessen weit in die Weltspitze vorzustoßen.

Thiem investiert drei Jahre viel, um aus seinem Tief herauszukommen. Mental und körperlich. Zieht Thomas Muster mit seiner Nummer-Eins-Erfahrung zu Rate. Lässt sich vom Durchhalte-Coach Benjamin Ebrahimzadeh antreiben. Geht freiwillig auf Challenger-Wettbewerbe, um sich von Grund auf neu aufzubauen. Startet mit seinem Vater als Coach neu durch. Mutet dem Handgelenk beim Training nur so viel zu, dass es beim Match, im Ernstfall, halten sollte. Hört beim Üben auf, wenn das „Aua“ kommt.

„Kontrolle“ ist sein Motto-Schlagwort. Der Dominator tut fast alles. Doch die Hand hält dagegen.

„Ich habe damit abgeschlossen, mich mit meiner früheren Version zu vergleichen. Das ist einfach eine andere Galaxy, wie ich damals gespielt habe und wie ich jetzt gespielt habe. So ehrlich muss ich zu mir sein. Deshalb versuche ich jetzt, das Beste aus der jetzigen Situation zu machen.“

Dominic Thiem, April 2024
Tennisspieler mit Schläger in der Hand, auf einem Sandplatz.
Dominic Thiem kämpft sensationell, doch das Handgelenk bremst ihn aus.
Photo Credits: Annegret Handel-Kempf

Die Schmerzen vor einem Match wegspritzen, taubspritzen, nach dem Nadal-Muster, wäre das eine Lösung? Dominic schnaubt erstaunt ob der Frage aus der Runde im Pressegespräch. Dennoch bleibt er ruhig: „Nein, ich glaube nicht, dass das funktionieren würde. Es gibt einen Grund dafür, warum man spüren sollte, warum man Schmerzen nicht wegspritzen sollte oder so. Deswegen ist das nichts, nein!“

Lange hat Thiem ein klassisches Comeback probiert. „Die letzten Monate und die letzten ein, zwei Jahre, war es selbst für mich schwierig, den Blick aufrecht zu halten, dass es irgendwann dauerhaft in eine bessere Richtung gehen wird. Ich habe nächtelang die Hoffnung durchdacht, den Glauben gehabt. “ Zugleich resigniert und optimistisch klingt Domis Umschwungs-Mantra: „Ich habe damit abgeschlossen, mich mit meiner früheren Version zu vergleichen. Das ist einfach eine andere Galaxy, wie ich damals gespielt habe und wie ich jetzt gespielt habe. So ehrlich muss ich zu mir sein. Deshalb versuche ich jetzt, das Beste aus der jetzigen Situation zu machen.“

„Das ist einer der wichtigsten Gründe, vielleicht sogar der wichtigste überhaupt: Mit meinen Erfolgen, mit der Art und Weise, wie ich spiele, so viele Leute und idealerweise Kinder zu begeistern, mit Tennis anzufangen. Weil es ein unheimlich geiler Sport ist. Und wenn ich das geschafft habe, beziehungsweise, wenn ich es noch immer schaffe, dann ist das ein unheimlicher Antrieb“

Dominic Thiem, April 2024

Seine frühere Version: Das war der French-Open-Finalist von 2018 und 2019, der dem Sandplatzkönig Nadal das Siegen schwer machte. Das war der Hartplatz-Champion von 2020, der als erster Österreicher die US Open gewann. Sein erster und wohl auch einziger Grand-Slam-Sieg. Das war der Mann, den potenziell alles gelingt.

Jetzt lässt der Dreißigjährige anklingen, dass es genug ist. Vielleicht. Je nachdem, wie er sich fühlen wird, innerlich. Ob es sich für ihn hundertprozentig richtig anfühlt. Was die Rangliste sagt. Wonach ihm schlussendlich ist, wenn das Jahr zu Ende geht und Australien zum nächsten Saisonstart anstünde. Seine Pläne reichen bis zu den French Open: Quali oder Wildcard, egal. Er will, wenn irgend möglich, zum Sandplatz-Grand-Slam. Dorthin, wo er einst ohne „Aus“-Rufe seines Handgelenks brillierte. Ungewohnt sei es insgesamt für ihn, darauf zu warten, nur gegebenenfalls in einem Hauptfeld antreten zu dürfen. Dann, wenn sich ein anderer aus einem bevorstehenden Wettbewerb rauszieht.

Und was, wenn Dominic Thiem tatsächlich seinen Abschied beschließt? „Dann wäre ich völlig mit mir im Reinen. Das muss man sowieso sein. Man muss sich damit beschäftigen, dass eine Karriere irgendwann zu Ende ist.“

Doch warum hat er diese schmerzhafte Trotz-alledem-Karriere nicht längst sausen lassen, wenn seine Hand doch so deutliche Signale gibt? Liegt es an der Begeisterung, die er mit seinem Spiel auch unter jungen Menschen auslöst?

„Das ist einer der wichtigsten Gründe, vielleicht sogar der wichtigste überhaupt: Mit meinen Erfolgen, mit der Art und Weise, wie ich spiele, so viele Leute und idealerweise Kinder zu begeistern, mit Tennis anzufangen. Weil es ein unheimlich geiler Sport ist. Und wenn ich das geschafft habe, beziehungsweise, wenn ich es noch immer schaffe, dann ist das ein unheimlicher Antrieb“, sagt Thiem und wirkt zufrieden mit seinem allmählich zum Karriereabschluss kommenden Selbst.

Der Münchner Max Rehberg (links im Bild) steht am Anfang seiner Karriere. Der dreimalige BMW-Open-Sieger Philipp Kohlschreiber (rechts) gibt ihm Tipps für die harte Tennis-Tour. Photo Credits: Annegret Handel-Kempf

Er schaut noch ein wenig über die Plätze. Auf einem Court in der Nähe trainiert gerade Philipp Kohlschreiber mit dem Münchner Max Rehberg, seinem Schützling an der Tennisbase Oberhaching. „Kohli“, bislang ungeschlagener Mehrfach-Titelträger am Aumeister, hat viele Tipps an den Nachwuchs weiterzugeben: Etwa, wie man eine Profi-Karriere und ein Match technisch und taktisch anlegen sollte. Kohlschreiber ist auch so einer, der Tennis so sehr liebt, dass es ihm schwerfiel, zurückzutreten. Obwohl die tägliche Disziplin zunehmende Qualen bereitete. Doch das Leben hat noch mehr zu bieten. Gute Erinnerungen sind dafür da, weiterzugehen. Thiem sagt nicht, wohin sein Leben nach seinem Spielerdasein führen könnte. Noch ist sein Leben Tennis. Für mehr hat der junge Wiener derzeit keinen Kopf.

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