Ein klein wenig gerührt wirkt er dann doch, der neue, neunte Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, als ihm Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Ernennungsurkunde überreicht und zuvor deren Text vorliest.
„Roboterhaft“ ungerührt sei das stoisch in sich ruhende, ehemalige Hamburger Stadtoberhaupt in seinem Auftreten, lautet ein stiller Vorwurf an den einstmals partiell eruptiven Juso-Politiker. Das kann er. Aber auch verschmitzt mit den Augen zwinkern, was selbst über den Emotionen wegsperrenden Pandemie-Masken zu sehen ist.
Bei seinem „Ja-Wort“, als er die Wahl zum Bundeskanzler mit einer nicht zu knappen Mehrheit akzeptiert, bleibt Olaf Scholz sitzen. Nicht schüchtern, eher bescheiden. Aus der Mitte des Bundestags herausgewählt, dort nimmt er die Wahl an. Als einer von sehr, sehr vielen Volksvertretern, deren ausführender, erster Exekutivarbeiter er seit dem 8. Dezember 2021 ist.
Allein sitzt der mit 395 von 707 abgegebenen Stimmen gewählte Kanzler danach zunächst auf einem der 17 Regierungsstühle. Seine Minister werden erst später in Schloss Bellevue ernannt. Scholz ist dabei.
Da hat der 63-Jährige seinen Eid bereits abgelegt. Zum Wohle des Volkes, „seinen Nutzen zu mehren, Schaden von ihm zu wenden“. Der gebürtige Niedersachse schwört den vorgeschriebenen Eid vor dem Bundestag, gemäß Artikel 56, im Angesicht der Urschrift des Grundgesetzes. Ohne Gottesbezug. Ein nüchterner Pragmatiker, der nun Verantwortung für ein sehr vielfältiges und nicht ganz einfaches Volk trägt.
Robert Habeck, Karl Lauterbach. Vor allem angehende Ampel-Minister gratulieren ein weiteres Mal herzlich. Handy-Fotos – mit und ohne Kanzler – sind an diesem Tag ausnahmsweise im Bundestag erlaubt. Die designierte Außenministerin und ehemalige Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, schüttelt jetzt kräftig die Hände mit dem neuen Regierungschef, nachdem sie den Kanzler gleich nach seiner Wahl durch die Abgeordneten umarmt hatte.
Scholz geht, unterbrochen von kleinen Gesprächen mit Manuela Schwesig, Malu Dreyer und anderen. Er geht seinen Weg aus dem Bundestag, zunächst ein weiteres Mal nach Schloss Bellevue. Diesmal zur Ernennung seiner Kabinettsmitglieder. Scholz‘ Eltern sind nch da, seine Frau. Auch Angela Merkel, nun Alt-Bundeskanzlerin, sitzt auf der Tribüne. Am Abend soll mit der konstituierenden Kabinettssitzung ein neues Kapitel in der Biographie des bisherigen Finanzministers und in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland beginnen. Die Ampel schaltet sich ein, mit kräftigem Licht auf Rot, aber auch mit viel Grün und nicht zu wenig Gelb.
Bundespräsident Steinmeier gibt dem neuen Kabinett mahnende Worte mit: „Sie tragen jetzt die Verantwortung für unser Land“, sagt Steinmeier zu den Ministerinnen und Ministern, denen er gerade die Ernennungsurkunde coronakonform zukommen ließ. „Für 82 Millionen Bürger.“ Der neuen Exekutive legt das Staatsoberhaupt den Zustand der Volksherrschaft ans Herz: „Unsere Demokratie lernt – sie kann Veränderungen. Unsere Demokratie ist stark. Das hat der gute, demokratische Übergang der vergangenen Tage gezeigt.“
Die Demokratie in Deutschland ist unter Druck. Doch die Ampel hat jetzt die Chance, an den notwendigen und attackierten Stellen auf „Go“ oder auf „Stop“ zu schalten. Die Zeit des Abwartens ist vorbei. Bei Corona und beim Impfen, beim Klima und bei der ökologischen Transformatiion von Wirtschaft und Gesellschaft. Bei Fragen der sozialen Gerechtigkeit, bei der Digitalisierung und beim Innovationsbedarf für eine überlebensfähige Wirtschaft, die auch die sozialen Systeme sichert.
Die Ampel-Regierung startet mit neuer Energie und voller Legitimation. Wenn sie es richtig macht, ignoriert sie den Pfeil, der für „rechts darf ohne Ampelschaltung abbiegen“ steht. Stoisch. So wie der neue Bundeskanzler Olaf Scholz wirkt.
Annegret Handel-Kempf