Künstliche Intelligenz und menschliche Evolution: Setzen die frühen Vögel aufs richtige Pferd?

Henning Vöpel erklärt seine Vision von KI.

„Menschen, die sich zu spät mit Innovationen beschäftigen, die sich verweigern, fallen zurück und machen dann den notwendigen, neuen Schritt nicht mehr.“

Professor Dr. Henning Vöpel, Direktor des Centrums für Europäische Politik

Interview: Annegret Handel-Kempf

 
Professor Dr. Henning Vöpel ist Direktor des Centrums für Europäische Politik, einer europapolitischen Denkfabrik, die sich auf die Analyse und Bewertung von volkswirtschaftlich relevanten Vorhaben der EU konzentriert. Auf seinen beruflichen Reisen, auch zwischen den Unternehmenssitzen Berlin, Rom und Paris, denkt der Experte für Ordnungspolitik viel über den Spannungsbogen aus Künstlicher Intelligenz, Kultur, Wirtschaft, Fachkräftemangel und Fortschritt nach. Ich unterhielt mich mit Professor Vöpel darüber, wo uns KI vorwärtsbringt, und warum uns diese neuerdings stark gehypte Technologie aus den 1950er- und 1960er-Jahren emotional bewegt und verunsichert.

Annegret Handel-Kempf: Herr Professor Vöpel, beim Deutschen Innovationsgipfel in München sprachen Sie davon, dass wir durch KI an einem Wendepunkt der Evolution stehen könnten. Die Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz sind groß, die Menschen probieren sie gerne aus. Und doch schüren die ebenso schnellen wie schlauen Datenverknüpfungen Ängste. Wie der Klimawandel, den die Menschen gerne ausblenden würden. Beobachten Sie so etwas bei der KI auch? 

Steht Künstliche Intelligenz oder/und der Mensch im Zentrum von Innovation? Copyright: Annegret Handel-Kempf

Henning Vöpel: Ja, ich sehe eine Überforderung. Viele sagen: „Ich will mich nicht tiefer mit Künstlicher Intelligenz beschäftigen, weil ich sie nicht verstehe.“ Andere wehren ab: „Das ist mir jetzt zu viel und zudem eine Gefahr für unser Leben.“ Dann gibt es eine kleinere, dritte Gruppe, die sagt: „Das ist doch genau das Werkzeug für die Lösung, die ich suche.“

Und diese letzte Gruppe von Menschen, die einen persönlichen Nutzen erkennen und willkommen heißen, macht weiter. Dieses Muster kennen wir bei Innovationen. Es gibt Leute, die mitschwimmen, andere, die dagegen ankämpfen. Und solche, die generell für Neues brennen und sogar als Pioniere vorangehen. Wer keinerlei Interesse zeigt, hat das Nachsehen. Das haben wir immer wieder bei Technologien erlebt, die nach dem ersten Hype das Berufs- und Wirtschaftsleben geprägt haben. Menschen, die sich zu spät mit Innovationen beschäftigen, die sich verweigern, fallen zurück und machen dann den notwendigen, neuen Schritt nicht mehr.

Dann kommt es so, wie mit „diesem Internet“, mit dem wir uns langsam mal befassen sollten?

Genau. Angela Merkel hat gesagt, das sei ein Neuland, „dieses Internet“. Tatsächlich war es das in einer gewissen Art und Weise auch. Das war in meinem Vortrag der Punkt mit Blick auf die Künstliche Intelligenz. Wir befinden uns zwischen Gegenwart und Zukunft, im Grenzbereich der „Liminalität“ – Gegenwart zerfällt schon, Zukunft ist noch nicht. Es ist eine Übergangszeit, in der es gilt, das Neue in Fortschritt zu übersetzen.  

Die KI kann unser tägliches Leben und sogar die menschliche Evolution verändern: Durch die Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz, der Quantentechnologie und der Biologie, kommt etwas gänzlich Neues, was wir als Singularität bezeichnen. Damit verbundene Fragen lauten: „Was bedeuten diese neuen technischen Möglichkeiten kulturell und ethisch?“ Und: „Was ist der Mensch eigentlich?“

Gestalten wir als Menschen die Gesellschaft mit KI oder werden wir zu ihrem Werkzeug?

Wirklich spannend finde ich, dass Künstliche Intelligenz die Zivilisation verändern kann.

Wenn wir unsere natürlichen Voraussetzungen an das anpassen, was technologisch jetzt möglich ist, könnte das sogar die Evolution beeinflussen. Diese Dimension haben wir bislang nicht wirklich verstanden.

Ein Beispiel ist, dass wir die Art, wie wir Handys nutzen, noch nicht kultiviert haben: Wir verwenden unsere Smartphones viel zu häufig und nutzen sie nicht zielgerichtet, wir machen sogar unsere Kommunikation kaputt. Und jetzt kommt mit KI schon die nächste, große, technische Innovation in Fahrt.

Immer mehr Unternehmen verwenden sie als Werkzeug, um zu besseren Lösungen, Produkten und Dienstleistungen zu gelangen. Doch da ist noch mehr. Es geht nicht nur um Werkzeuge, es geht um Kultur.

KI zieht stärker in unseren Alltag ein, weil notwendige Datenmengen und Prozessorgeschwindigkeiten erreicht wurden. Überrollt uns die KI, bevor wir eine kulturelle Gebrauchsanleitung fürs Smartphone zustande gebracht haben?

Beide, Smartphone und KI, nähren sich aus Datenmassen, die wir jetzt verarbeiten können. KI berührt alles, was wir tun. Das Bestreben, alles mit KI anzureichern, greift um sich. Das muss man sehen. In einigen Lebensbereichen geht das sehr schnell. In anderen Bereichen wird das lange dauern. Am Start einer technologischen Innovation empfinden wir die Veränderung als radikal. Hinterher sagen wir: „Na ja, gut, es hat irgendwas verändert, aber nicht so stark.“ Und das liegt daran, dass wir uns kulturell adaptiert haben.

Gehören KI und Smartphone schlicht zu mehreren Schritten, Wirtschaft und Gesellschaft zu digitalisieren?

Ich frage meine Studierenden manchmal: „Wissen Sie WM 2006, Sommermärchen? Welche App ist damals am häufigsten runtergeladen worden?“ Die richtige Antwort aus drei Antwortmöglichkeiten lautet: „2006 gab es noch keine Apps, erst 2007 ist das Smartphone gekommen.“ Heute fühlt es sich an, als hätten wir nie ein Leben ohne Smartphone gehabt.

Während des Sommermärchens ploppten ständig SMS auf. Apps waren Jahre später noch erklärungsbedürftig.

Trotzdem würde jeder von uns sagen: Von 2006 auf 2007 gab es keinen technologischen Bruch. Das Leben hat sich damals rückblickend nicht dramatisch geändert. Der Alltag aber schon. Immerhin hängen wir mehrere Stunden am Tag am Handy.  

Apps sind demnächst auch von gestern.

Ja. Und Algorithmen sind bereits eine Vorform von Künstlicher Intelligenz. Wir sind also schon dabei, uns daran zu gewöhnen, dass KI eine Rolle spielt.

Kann Künstliche Intelligenz ein Sparring-Partner für unsere Kreativität sein?

Die Idee eines Co-Piloten kann uns helfen, KI sinnvoll einzusetzen. Aber KI ersetzt uns nicht. Das Prinzip der Digitalisierung und das Wesen des analogen Menschen sind eben nicht gegeneinander substituierbar. Deshalb ist die Idee, dass das eine den anderen ersetzen könnte, irreführend. Es geht darum, die analogen Fähigkeiten des Menschen mit den digitalen Möglichkeiten der Technologie zu kombinieren. Damit sind wir bei einem anderen Ansatz der Technologienutzung, als gerade diskutiert wird. Heute geht es viel um KI als dem besseren Menschen. Das ist Unsinn.

Könnten wir mit ein wenig Geschick durch KI den Fachkräftemangel lösen. Und weniger, dafür effizienter, arbeiten?

Wir haben die Möglichkeit, jeden einzelnen Arbeitsplatz besser und produktiver zu gestalten. Doch wir tun es nicht, wir verharren im „irgendwie mal gucken“. Meine Forderung lautet daher: „Her mit der KI, sofort!“. Weil ich glaube, dass wir in vielen Bereichen, besonders in der Verwaltung, diesen Push jetzt bräuchten. Ein solcher „Schubser“ würde viel freisetzen. KI würde uns Zeit und Ressourcen geben, nicht Arbeit wegnehmen. Wir hätten plötzlich Freiheit übrig, uns mit den wesentlichen Dingen zu beschäftigen. Zeit und Ressourcen, die wir jetzt gebunden haben, in relativ unproduktiven, stupiden Tätigkeiten. Uns kann gerade nichts Besseres passieren, als dieses Werkzeug in die Hand zu nehmen.

Beruflich und privat lassen sich schwer trennen: Sehen Sie KI auch als Werkzeug, das uns im Privaten mehr Luft verschafft?

Ja, aber unterschiedlich. Unternehmen, die unter Regulierung leiden und unter der Last von Berichtspflichten stöhnen, können mit KI manche Verwaltungsaufgaben einfach automatisieren. Das befreit uns beruflich von unproduktiven Tätigkeiten.

Ich kann KI privat und beruflich einsetzen, um die Informationsflut zu bewältigen. Als Co-Piloten oder Agenten, der mit Feedback-Loops nach der Devise vorgeht: „Ich kenne meinen ‚Prinzipal‘, und weiß, was für ihn wichtig ist. Und ich als KI kann gleichzeitig auch noch daraus lernen, indem ich ihn unterstütze.“

Wenn nun eine KI sagt: „Ich kenne meinen Herrn“ – schränkt das nicht meine Freiräume ein, Unbekanntes zu entdecken und durch überraschende Impulse selbst ganz neue Ideen zu entwickeln? Führt dieser KI-Butler-Service zu einer mentalen und kulturellen Einschränkung?

Ja, das glaube ich. Wir müssen eine neue Mündigkeit entwickeln im Umgang mit Technik. Eine Haltung, die kritischer, skeptischer, weniger wissensbasiert ist. Die nicht fragt: „Wie mache ich das eigentlich?“, sondern: „Was bedeutet das?“. Das relativiert den Einfluss von KI auf uns.

Das heißt, wenn wir auf neue Technik treffen, sollten wir deren Wirkung analysieren und nicht nach einer Gebrauchsanleitung suchen?

Wenn ich einen Fernseher bedienen kann, weiß ich noch nicht, was er mit mir macht. Ein guter Freund, Nils Müller, der CEO von Trendone, hat neulich – sehr provokant. – behauptet, KI sei das Ende der Wissensgesellschaft. Wenn man länger darüber nachdenkt, versteht man, was er meint. Das Ende der Wissensgesellschaft, diese nächste Stufe der Zivilisation, bedeutet, dass wir uns stärker der Emotionalität und Psychologie von Technologie widmen können. Das Wissen allein und die Kognition sind allein nicht mehr ausreichend, um die Bedeutung von Technologie für die Zivilisation und Evolution zu verstehen.

Nach meiner Einschätzung verschafft uns KI die Chance, uns auf einer höheren – oder weniger esoterisch ausgedrückt – auf einer anderen Bewusstseinsebene mit dem Leben zu beschäftigen.

Ist Wissen nicht auch vieles, was tradiert wird, ohne dass es von der KI gesehen werden kann? Zudem ist längst nicht alles digitalisiert, was in der Zeit der Schriftlichkeit geschaffen wurde.

Natürlich. Das ist ein interessanter Gedanke. Kann ich neues Wissen schöpfen, wenn ich alles digitalisiere, was heute existiert, und ich das rekombiniere? Also, nicht nur kreativ sein, im Sinne von: „Ich kombiniere neu“. Sondern wirklich schöpfen, also außerhalb der Menge des Existierenden wirklich neues Wissen schaffen.

Da bin ich skeptisch. Womöglich gelingt es, aber einfach nur statistisch, qua Wahrscheinlichkeit. Neue Dinge zusammenzusetzen, ist womöglich nicht das originär Kreative. Und ich persönlich glaube, dass die Leute irgendwann sagen: „Ja, ich verstehe, ich kann solche Bilder jetzt mit KI tausendfach nachmachen. Aber ist das jetzt wirklich so großartig?“

So, wie uns analoge Schwarz-Weiß-Fotografie mehr anfasst als ein technisch perfektes, automatisch kreiertes Bild?

Ja, eine Fotografie, die einen realen Moment ablichtet, trägt viel mehr Authentisches und Ästhetisches in sich, als aus einer Datenfolge etwas Künstliches zu generieren.

Könnten wir gegenüber Bildern, Tönen und Texten generell überdrüssig werden, weil uns die Ungewissheit, was daran wahr und was künstlich ist, überfordert?

Wenn selbst die KI mit der Frage überfordert ist, ob sie es mit KI oder Menschen zu tun hat, heißt das für uns als Gesellschaft: „Nichts, was ich sehe, nichts, was ich höre, nichts, was ich lese, ist echt.“ Die Realität wird künstlich, ein Konstrukt, sie existiert nicht unabhängig davon, wie wir sie sehen.

Drohen uns Langeweile und Eintönigkeit, wenn sich KI letztlich nur noch aus KI nährt?

Ja, aber dann müssen wir Menschen wieder interessanter werden. Auf diese Standardisierung durch KI könnten wir reagieren, indem wir viel häufiger das persönliche Gespräch, die Begegnung suchen.

Könnte uns KI also tatsächlich mehr Privatheit schenken?

Mehr noch als andere Maschinen, die wir entwickelt und gebaut haben und die dafür sorgten, dass wir mehr Freizeit haben, in der wir beispielsweise Sport oder Musik machen. Menschen haben Technologie immer auch dafür genutzt, mehr Zeit für sich zu haben. So wird es hoffentlich auch dieses Mal sein. KI wird uns helfen, menschlicher zu werden, nicht unmenschlicher.

Fehlt die Wertschätzung dafür, dass sich Menschen mit Menschen beschäftigen?

Eindeutig. Wir werden sogar ungnädiger im Umgang miteinander und zugleich einsamer Aber das kann genau diese nächste zivilisatorische Stufe sein, dass wir das Miteinander neu lernen und wieder zu schätzen lernen.

Vor hundert Jahren, als die Menschen morgens vor sieben Uhr aufs Feld gegangen sind und abends gegen zehn Uhr zurückgekommen sind, hätte sich niemand vorstellen können, dass es in der Zukunft einen Personal Trainer gibt. Uns wird auch dieses Mal etwas einfallen. So stupide sind wir nicht.  

Das heißt, KI-Kultur, respektive Kultur mit KI, erzeugt ein ähnlich offenes Feld vermehrter Optionen, wie es unseren bäuerlichen Vorfahren mit Traktoren und Saatmaschinen erging?

Genau, und wir haben keine andere Chance, als die Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz gemeinsam anzugehen und weiterzuentwickeln, weil sie da ist und nicht mehr weggehen wird. Es geht darum, uns dem Leben neu zu widmen.

Urheberrechtlicher Hinweis: Abdruck, Veröffentlichung, Verbreitung sowie Verwendung der Inhalte und thematischen Aspekte des Interviews sowie der zugehörigen Bilder nur gegen Honorierung, nach vorheriger Vereinbarung. – Fotos liefert das Redaktionsbüro Smarte Zeitung auf Wunsch .

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